von Ute Franzmann
erschienen in der SEIN Ausgabe Dez-Jan-Feb-2024
https://www.sein.de/print-archiv/dezemberjanuarfebruar-2023/
Der Aufhänger für diesen Artikel war im TV die Sängerin Nena. Sie wurde zum Thema Klimaschutz befragt und war sehr genervt. Da sie diese Frage zur Zeit oft gestellt bekommt und sie antwortete sinngemäß „Wir sollten uns mal bewusst werden, nicht nur wie wir mit unserer Natur umgehen, sondern auch wie wir mit uns und unseren Mitmenschen umgehen.“ Sie sprach mir aus der Seele. Denn bei allem Klimawandel und Naturschutz sollten wir die Menschlichkeit nicht vergessen.
Über die Notwendigkeit einer neuen Ausrichtung der Gesellschaft
Vor ein paar Monaten ist mir Menschlichkeit im höchsten Maße begegnet. Ich war tief beeindruckt und wusste gar nicht so recht damit umzugehen. Ich wollte nach Westdeutschland fahren und packte das Auto. Ja, und da passierte es: Ich hatte den einzigen Schlüssel, den ich noch besaß – der zweite liegt im Gulli vor meiner Haustür – im Auto eingeschlossen. Ich konnte ihn durch die Scheibe auf der Rückbank liegen sehen. Puh, was nun? Ich ging zu meiner Autowerkstatt, die um die Ecke liegt, und bat um Hilfe. Die konnten mir aber nicht helfen. Ich wollte gerade schon gehen, als ein Kunde der Werkstatt meinte: „Ich gucke mir das mal kurz an.“ Aus dem „kurz“ wurden 1,5 Stunden in der heißen Sonne, begleitet von weiteren Widrigkeiten, die passieren können, wenn man versucht, eine Autotür ohne Schlüssel zu öffnen. 1,5 Stunden hat Max M. mir geholfen, mein Auto zu öffnen! Warum? Wieso? Ich tippe auf Menschlichkeit. Einfach helfen, wenn jemand in Not ist. Das hatte ich lange nicht mehr erlebt und es hat mich tief berührt. Ich weiß nicht, ob ich selbst in dem Maße geholfen hätte. Es war so ein gutes Gefühl, diese Menschlichkeit zu erleben, dass es mich seitdem begleitet.
Mit der Menschlichkeit in sich verbinden
Vor kurzem hatte ich dann selbst die Gelegenheit, an anderer Stelle davon etwas zurückzugeben, als ich am Sonntagnachmittag in der Nähe vom Görli eine Frau auf dem Bürgersteig liegen sah. Alle Passanten gingen an ihr vorbei, ich zunächst auch. Ehrlich gesagt hatte ich etwas Angst davor, was mich erwartete, wenn ich sie anspreche. Sie war schwarz, ziemlich weggetreten, aber normal gekleidet. Ich versuchte mit ihr auf Englisch Kontakt aufzunehmen und wurde mit der Zeit zunehmend lauter, da sie nicht reagierte. Daraufhin blieben Menschen stehen und einer meinte, sie wäre ja nur betrunken, die Außentemperatur sei auch noch okay – ich solle sie einfach liegen lassen. Das ist ja noch schlimmer, als nur vorbeizugehen, dachte ich bei mir. Also blieb ich dran und versuchte es weiter. Plötzlich meldete sich die liegende Frau mit: „Schrei mich nicht so an!“ Ich war verblüfft, aber auch erleichtert und entschuldigte mich. Sie war offensichtlich sehr betrunken, aber wusste, wer sie war und wo sie wohnte. Ich versuchte sie hochzubekommen, aber da ihr Fuß sehr geschwollen war, rief ich doch lieber den Krankenwagen. In der Zeit, als wir warteten, bedankte sie sich ganz oft bei mir für meine Hilfe und versuchte mir zu erklären, was geschehen war. Dann kam der Krankenwagen – und ich dachte, ich bin im falschen Film. Ein junger und ein älterer Rettungssanitäter kamen auf uns zu. Der jüngere klopfte der Frau etwas unwirsch auf die Schulter und fragte, was ihr Problem sei. Wenn sie ihm jetzt nicht sofort sagte, was ihr Problem sei, könne er ihr nicht helfen. Ich war total verdattert. Ich bin selber Krankenschwester, aber so etwas hatte ich noch nicht erlebt. Er fragte weiter, ob sie Selbstmord begehen wollte. Also, sensibel geht anders. Bis ich begriff, dass der junge Mann selbst total überfordert war. Er sprach davon, wie oft er Betrunkene transportiert hatte, wie überfüllt das Urban-Krankenhaus sei und von verlorenen Kapazitäten. Daraufhin bekam ich auch Mitgefühl für ihn und die Situation entspannte sich etwas. Er nahm die Frau mit, ich war erleichtert und doch geschockt zugleich. Wie weit waren unser Gesundheitssystem und unsere Gesellschaft eigentlich von der Menschlichkeit entfernt? Für mich hatte es sich genauso gut angefühlt, jemandem zu helfen, der in Not war, wie vorher selbst Hilfe erhalten zu haben. Warum? Weil es mich mit etwas zutiefst Menschlichem im eigenen Inneren verbunden hatte.
Wie wollen wir leben?
Mir stellt sich die Frage „Wie und mit welchen Werten wollen wir als Gesellschaft leben?“ und „Was sind wir bereit, dafür zu geben?“. Nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch. Was bekommt von uns Anerkennung und Aufmerksamkeit? Wir haben ständig die Möglichkeit als Gesellschaft, uns neu auszurichten: weg vom reinen Überleben, wie es die Generationen vor uns tun mussten, hin zum Leben in Freude und Menschlichkeit. Dafür müssen wir allerdings unsere eigene Geschichte anerkennen und aufdecken. Denn wir erben nicht nur die Hautfarbe und Talente von unseren Ahnen, sondern auch deren Geschichte und besonders deren Ängste. Wir sprechen hier vom kollektiven Trauma.
Als ich eine junge Mutter von drei Söhnen war, war ich sehr verunsichert in Bezug auf Kindererziehung. Ich kaufte mir, wie so viele meiner Generation, die Zeitschrift „Eltern“ als Ratgeber, um ja alles richtig zu machen. Meine schottische Freundin schüttelte nur den Kopf und meinte, „Was ist nur mit euch Deutschen los? Für alles braucht ihr einen Ratgeber, sogar für das natürlichste der Welt, Kinder zu erziehen. Das lernt man doch von seinen Eltern.“ Und genau da liegt das Problem. Die Deutschen haben lange ihre Kinder nach der sogenannten schwarzen Pädagogik erzogen. Dort ging es darum, die Kinder für die Zukunft zu stärken und unempfindlicher zu machen. Die Kinder wurden von ihren Müttern nach der Entbindung getrennt und in große Säuglingszimmer gesteckt. Sie wurden auch nicht gestillt (was Gott-sei-Dank in meiner Generation wieder eingeführt wurde). Dadurch fehlte den Kindern das Urvertrauen und es ist heute häufig Thema von meinen Klient*innen.
Diese tiefe Einsamkeit und dieser tiefe Schmerz, den wir dadurch in uns tragen, will geheilt werden. Es ist nicht der Fehler oder die Schuld einer*s Einzelne*n, sondern es ist ein gesellschaftliches Problem und sollte auch als ein solches gesehen werden.
Traumata heilen
Wir sind eine traumatisierte Gesellschaft und sollten den/die Einzelne*n damit nicht alleine lassen. Immer häufiger höre ich in den Nachrichten, dass viele Menschen einsam sind und gerade jetzt nach Corona auch viele Jugendliche Probleme mit ihrer Psyche haben. Überall dort, wo Kriege stattgefunden haben und auch heute stattfinden, schaffen wir neue Traumatisierungen, die über Generationen weitervererbt werden – wenn nicht die Chance ergriffen wird, hier genau hinzusehen und es gemeinsam zu heilen. Es gibt nichts Schlimmeres für eine Seele, als durch andere Menschen verletzt zu werden.
Wir könnten diese Trennung, die der Einsamkeit zugrunde liegt, durch Menschlichkeit und Mitgefühl füllen, indem wir der emotionalen Seite Achtung und Aufmerksamkeit schenken. Denn kein Mensch sucht sich willentlich Elend und Not aus – jeder Mensch will gut leben. Jetzt sind die Zeit und der Raum, um Bewusstsein dafür zu entwickeln und all die verschiedenen Traumata zu heilen. Ja, Trauma ist heilbar, doch alleine nur sehr begrenzt oder schwierig. Wir brauchen den anderen dazu, der uns sieht, hält und uns neue Möglichkeiten eröffnen kann, die wir anhand unserer Verletzung nicht sehen können. Das Gehirn ist lernfähig und kann neue Verbindungen schaffen. Und die Frage ist nicht „Wo bist du falsch?“ sondern, ganz nach dem Buch von Bruce Perry und Oprah Winfrey „Was ist dir passiert?“. Jeder Obdachlose hat seine Geschichte, jedes missbrauchte Kind, jede geschlagene Frau und auch jeder emotional missbrauchte Mensch.
Mitgefühl mit uns selbst
Lasst uns die Liebe wählen, die Liebe erst einmal in Form von Selbstliebe, denn nur wer hat, kann geben. Liebe in Form von Menschlichkeit und indem wir nicht alles bewerten und schlecht machen. Denn da steckt wieder die Angst dahinter, alles und jedem zu misstrauen, um auf mögliche Gefahren vorbereitet zu sein. Nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. Es ist das alte Überlebensprinzip aus der Kriegsgeneration, was meiner Meinung nach heute bei uns nicht mehr nötig ist. Ja, wir dürfen leben. Wir können uns eine Welt erschaffen, in der Gerechtigkeit und Respekt Platz haben. Die Sehnsucht danach ist bei den meisten vorhanden. Leider werden wir immer wieder in die verschiedensten Kriegsgeschehen hineingezogen, die von den Mächtigen dieser Welt ständig neu initiiert werden, um ihre Macht zu erhalten und ihr Geld zu vermehren. Doch auch diese Menschen wollen einbezogen werden, wie eine Botschaft aus der geistigen Welt (empfangen von Pamela Kribbe) zeigt: „Darum bitte ich euch, Mitgefühl mit euch selbst und mit eurem eigenen Schmerz zu haben und zu erkennen, dass es nicht nur euer persönlicher Schmerz ist, sondern der Schmerz der ganzen Menschheit. Es ist ein kollektiver Schmerz. Wenn ihr dies begreift, versteht ihr besser, was auf dem Spiel steht: Was ihr tut, ist wichtig für das Ganze.“
Meditation für Frieden
Lasst unser Tun bereichernd und sinnstiftend für uns alle sein. Und lasst jeden etwas zur Gemeinschaft beitragen. Ab sofort lade ich zur Meditation für Frieden ein, die jeden Sonntag von 21-21:30 Uhr stattfindet. Dafür kannst du dich einfach zu Hause mit in den kollektiven Raum einklinken, den alle Mitwirkende schaffen, und dich einfühlen. Ich hoffe, wir werden viele, um Bewusstsein und die Energien der Liebe anzuheben.
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